Theo Kinder im Gespräch mit Gunther Pohl
Zuerst erschienen in: Flöte aktuell, Nr. 2/1989, Seiten 11 – 14
Theo Kinder: Wenn ich ein Interview mit Flötisten lese, dann stelle ich mir vor – dem Platz natürlich angemessen – über drei Bereiche etwas zu erfahren: 1) ein paar persönliche Dinge, 2) aktuelle Fragen der Flöte und 3) pädagogische Probleme. Darum lassen Sie auch mich mit der immer wiederkehrenden Frage beginnen: Wie kamen Sie zur Musik?
Gunther Pohl: Ich stamme aus einem höheren Beamtenhaushalt mit vier Kindern. Die beiden älteren Brüder spielten Geige und die jüngere Schwester Cello. Zu Hause wurde viel Hausmusik gemacht – die ganze Familie spielte auch Blockflöte – und ich begann mit acht Jahren mit Klavier. Es entstand dann mein Wunsch, Flöte zu spielen, und ich erhielt zur Konfirmation mein erstes Instrument, eine Kohlert für 330 Mark; das war damals eine Sensation für mich.
Theo Kinder: Bei wem bekamen Sie Ihren ersten Unterricht?
Gunther Pohl: Nachdem ich sehr guten Privatunterricht bei Helga Bingel-Platen in Bonn hatte, kam ich 1961 zu Prof. Dr. Hans-Peter Schmitz nach Detmold; die letzten zwei Jahre vor dem Abitur besuchte ich das musische Aufbau-Gymnasium in Detmold, um gleichzeitig schon bei Schmitz als einer der ersten Jungstudenten zu studieren. Nach dem Abitur folgten dann fünf Semester als ordentlicher Student, nach denen ich die künstlerische Reifeprüfung ablegte.
Theo Kinder: Was war das Besondere an Schmitz’ Unterricht?
Gunther Pohl: Das Herausragende war wohl, dass er grundsätzlich nicht vorspielte, um, wie er sich ausdrückte, das "direkte Imitat" zu vermeiden und um den Weg zum klanglichen Ergebnis bewusster zu machen. Er hat das mit solcher Konsequenz durchgehalten, dass ich tatsächlich nie einen Ton live von ihm gehört habe. Vermisst habe ich es persönlich, wie auch meine Kommilitonen, nie, weil ich seine blumenreichen Erklärungen der klanglichen Vorstellungen für mich umsetzen konnte.
Theo Kinder: Das spricht für Schmitz.
Gunther Pohl: Das spricht absolut für ihn, ist aber sicherlich nicht auf andere Pädagogen zu übertragen.
Theo Kinder: Wo lagen die Schwerpunkte in seinem Unterricht?
Gunther Pohl: Im Mittelpunkt stand immer die Interpretation des Stückes, handwerkliche Sachen wie Ton – Bindung – Stoß waren natürlich fester Bestandteil, konnten aber aus Zeitmangel im Unterricht oft weniger berücksichtigt werden. Wichtig war noch, dass fast alle Stücke mit Begleitung, und zwar durch Kommilitonen, im Unterricht gearbeitet wurden.
Theo Kinder: Sie haben Schmitz nie gehört. Haben Sie andere Flötisten gehört; gab es für Sie andere Vorbilder?
Gunther Pohl: Also so ein Idol, so einen viel spielenden amtierenden Flötisten hatte ich nicht, so wie heute manche Galway oder andere sehen. Ich lernte die großen Leute damals durch Kurse kennen. Schmitz befürwortete nicht nur solche Kurse, sondern und vor allem das Auslandsstudium. Und so kam ich dann nach der künstlerischen Reifeprüfung für ein Jahr zu Gaston Crunelle nach Paris. Ein sehr wichtiger Ortswechsel.
Theo Kinder: Sie sind seit 1973 Soloflötist bei den Bamberger Symphonikern, einem auch Reiseorchester?
Gunther Pohl: Ja, wir müssen reisen, da wir ja kein städtisches Orchester sind. Das Positive an den vielen Reisen ist, dass wir tatsächlich viele Konzerte haben, und das finde ich wahnsinnig wichtig für ein Orchester. Ich finde es auch schön, dass man in den Zentren der ganzen Welt spielt, und da muss man einfach gut sein. Die Reiserei geht mir nicht auf die Nerven, man hat in der Regel genug Freizeit, sich auszuruhen, oder sich auch etwas anzusehen.
Theo Kinder: Sie kommen gerade von einer Kammermusiktournee aus Südamerika zurück. Sind Sie in einem festen Kammermusikensemble tätig?
Gunther Pohl: In einem festen Ensemble nicht. Ich habe in vielen Ensembles mitgewirkt, aber das verändert sich im Laufe der Jahre. Ich habe eigentlich nur feste Duo-Partner: Hans-Joachim Erhard, Cembalo und Clifford Lantaff, Harfe.
Theo Kinder: Sie haben seit langer Zeit wieder einen festen Chefdirigenten. Darüber hinaus aber arbeiten Sie ja mit vielen Gastdirigenten. Wie wirkt sich das auf die Arbeit aus?
Gunther Pohl: Über die Qualität verschiedener Dirigenten ist man sich naturgemäß nie einig, und das ist eigentlich das Schöne; dadurch ist immer Leben drin.
Theo Kinder: Haben Sie einen Lieblingsdirigenten?
Gunther Pohl: Na ja, Lieblingsdirigent vielleicht nicht, aber einer unter dem man besonders gerne gespielt hat, und da würde ich auf jeden Fall Eugen Jochum nennen. Ein herausragendes Ereignis zum Beispiel war die achte Symphonie von Bruckner in Tokio unter ihm, unvergesslich!
Theo Kinder: Haben Sie eigentlich Lampenfieber?
Gunther Pohl: Eigentlich nicht. Wenn man die Stellen kann, braucht man das nicht zu haben. Es kann natürlich mal passieren, dass aus einer Spannungssituation heraus Lampenfieber kommt, aber das ist eher die Ausnahme. Ich freue mich auf die großen Soli, wenn es sich zum Beispiel in der vierten Brahms so vorbereitet, immer leiser wird und dann kommt dieses Solo, und dann der Abgang – das ist dann einfach unheimlich schön.
Theo Kinder: Haben Sie es jemals vermisst, in einem ausgewachsenen Opernorchester zu sitzen?
Gunther Pohl: Nun, ich habe ja ein Jahr in Bremen gespielt, das hat mir schon gefallen, und ich bin dankbar, dass ich das kennen gelernt habe, aber vermissen – nein.
Theo Kinder: Um nun zur Flöte zu kommen: Sie blasen eine Helmuth-Hammig-Flöte. Seit wann?
Gunther Pohl: Die habe ich während des Studiums gekauft. Natürlich habe ich noch andere Instrumente, aber ich denke, ich finde keine, die irgend etwas besser könnte als meine Helmuth-Hammig, ich bin nie von ihr weggekommen.
Theo Kinder: Was halten Sie von der Vielzahl japanischer Fabrikate?
Gunther Pohl: Es ist schon toll, was die geschaffen haben, und durch die Produktionsmenge sind sie ja auch preisgünstig geworden. Die Unterschiede zu anderen sind auch nicht mehr so gewaltig. Auch unsere Instrumente werden immer dünnwandiger. Ich halte es für falsch, dass man zu viele Wünsche in eine Flöte impliziert, die sie gar nicht erfüllen kann. Ich vertrete eigentlich die Meinung: also das ist mein Instrument, und nun will ich mal sehen, dass ich schön damit zurechtkomme. Am schlimmsten finde ich diese ‚Kopfwirtschaft’, einfach unmöglich. Natürlich kann ein Kopf eine schlechte Flöte verbessern, aber dann sollte ich mir eben ein besseres Instrument insgesamt kaufen. Ich meine, man sollte die Arbeit eines Flötenbauers nicht missachten.
Theo Kinder: Vom Instrumentalen mal weg zur Art des Blasens. Sehen Sie heute noch einen Unterschied zwischen deutscher und französischer Schule?
Gunther Pohl: Dadurch, dass etliche ausländische Kollegen an den Hochschulen arbeiten und durch die starken Einflüsse der Schallplatte internationalisiert sich alles. Ich glaube nicht, dass es in dem Sinne noch eine deutsche Art zu blasen gibt. Es gibt aber ganz eindeutig eine französische Flötenschule; sie blasen in der Höhe einfach etwas enger als andere und können dadurch ein zauberhaftes pianissimo blasen, zwar eng, aber doch unglaublich leise; und in der Tiefe können sie halt auch sehr stark sein. Die Kombination mit der sogenannten ‚deutschen Schule’ wäre natürlich toll, was wir ja auch alle anstreben.
Theo Kinder: Üben Sie noch regelmäßig Handwerk? Haben Sie noch Zeit und Muße dazu?
Gunther Pohl: Regelmäßig sicher nicht, es sei denn vor großen Ereignissen, Ibert-Konzert oder so. Sonst denke ich, wenn ich sechs Stunden Schallplattenaufnahmen habe, habe ich zum Beispiel tonlich doch viel gemacht, da wird man schon gefordert. Es macht natürlich immer wieder Spaß, cis’’’-decrescendo auszuprobieren, da weiß man doch, was los ist! Ansonsten übe ich projektbezogen, und dann aus dem Stück heraus. Wenn zum Beispiel eine Bindung oder technische Ecke nicht geht, reduziert man das auf das Wesentlichste und übt eben noch einen Tonwechsel oder Ähnliches. Ich könnte mir aber auch eine andere Art der Vorbereitung vorstellen.
Theo Kinder: Haben Sie Lust, so nebenbei neue Flötenstücke einzustudieren?
Gunther Pohl: Das ergibt sich schon durch den Unterricht. Hätte ich keine Schüler, müsste ich das irgendwie selber machen, aber Schüler kommen auch immer wieder mit neuen Sachen. Oft auch mit Mode-Trend-Stücken, die man früher einfach nicht so oft gespielt hat, zum Beispiel Undine-Sonate oder Jolivet "Chant de Linos". Und ich mache meine Schüler auch mit unbekannteren Werken bekannt, zum Beispiel der Sonate von Jolivet, genauso schöne Musik wie "Chant de Linos".
Theo Kinder: Ihr Lieblingsstück...
Gunther Pohl: Ach, ich weiß nicht, wenn dann Lieblingsmusik, und das ist Bach; und wenn Bach, dann könnte es die h-Moll-Sonate sein, es könnte aber auch E-Dur sein.
Theo Kinder: Von Bach ist der Sprung zur Traverso nicht weit. Sie haben zwei Traversi, spielen Sie sie?
Gunther Pohl: Heute kaum noch. Ich bewundere es, was da für technischer Fortschritt entstanden ist, es gibt so unglaublich gute Interpreten heute. Meine größte Bewunderung gilt Barthold Kuijken. Ich werde es kaum schaffen, aus dieser Position heraus auf hohem Niveau auch das alte Instrumentarium zu spielen. Mein Wunschtraum ist es, einmal unter Harnoncourt Mozart zu spielen, weil ich es so faszinierend finde, was er mit Orchestern schafft, die auf heutigen Instrumenten spielen. Der Unterschied zwischen historischen und modernen Instrumenten ist ja in der Hauptsache ein klanglicher. Die Spielweise ist es aber, die die Musik lebendig macht, und darum bemühe ich mich auch in meinem normalen Dienst. Zum Beispiel das leicht inegale Spiel. Ich mache das so lange, bis einer sagt: "Spielen Sie doch mal gerade." Aber es merkt ja keiner, und es soll ja auch keiner merken. Es soll ja nur eine Belebung sein, das ist ja das Schöne. Ich bin da viel freier geworden.
Theo Kinder: Und wie steht es mit der anderen Richtung, mit der experimentellen Musik?
Gunther Pohl: Die klanglichen Ergebnisse interessieren mich immer sehr, auch schon wegen des Unterrichts. Aber so die richtige experimentelle Art mit Kehlkopfmikrofon und allem drum und dran habe ich eigentlich nie gemacht.
Theo Kinder: Damit sind wir beim Stichwort Hochschule und Aufgabe. Sie haben in Lübeck eine Honorarprofessur?
Gunther Pohl: Ja, sie ist funktionsmäßig ein Lehrauftrag, den ich während meiner NDR-Zeit bekam und dann beibehalten habe.
Theo Kinder: Diese Entfernung Bamberg – Lübeck ist sicher sehr strapaziös.
Gunther Pohl: Natürlich. Ich unterrichte aber immer blockweise, sodass ich mich immer voll auf das eine konzentrieren kann. Und mich reizt einfach diese Kombination, das praktische Orchesterspiel mit der Methodik zu verbinden.
Theo Kinder: Setzen Sie bestimmte Schwerpunkte in Ihrem Unterricht?
Gunther Pohl: Die Interpretation der Stücke, ganz wichtig auch von Anfang an Orchesterstudien. Aber zunächst ist für mich das Wesentlichste doch immer noch der Ton. Da ich keine Orchesterflötisten oder Solisten ausbilden will, sondern ganz einfach Flötisten. Man hat doch nur einmal, am Anfang des Studiums, die Chance, alles so richtig aufzubauen.
Theo Kinder: Haben Sie eine bestimmte Methode bei den Tonstudien?
Gunther Pohl: Ja, eigentlich ganz einfache Übungen mit dem einzelnen Ton: piano – crescendo – forte – decrescendo. Dann zusammengefasst als messa di voce. Erst ohne Vibrato, dann auch als Solo-Ton mit Vibrato.
Theo Kinder: In einem Kurs bei Frau Professor G. Zimmermann wurde Ihre Aufnahme der Roussel-Stücke als vorbildhafte Vibrato-Führung vorgestellt. Halten Sie Vibrato für lehrbar? Und wo sollte Ihrer Meinung nach der Impuls dafür herkommen?
Gunther Pohl: Für lehrbar halte ich es in jedem Falle – sonst könnten wir es nicht korrigieren – auf dem Wege von bewusst gemachten Vibrato-Übungen mit der schwierigen Übergangsphase über einen Solo-Ton mit Vibrato zum ungesteuerten, von selbst richtig sitzenden Vibrato. Und es sollte immer wieder vom Zwerchfell her kommen.
Theo Kinder: Wie beginnen Sie Vibrato-Übungen?
Gunther Pohl: Ein gerader Ton wird langsam crescendiert und decrescendiert, darf dabei auch ruhig höher und tiefer werden. Dann wird das Tempo beschleunigt. Beim Accellerieren wird die Amplitude immer kleiner. Man soll unbedingt darauf achten, dass die Kurve immer sinusartig bleibt und nicht Spitzen dabei rauskommen.
Theo Kinder: Also würden Sie nicht, wie Gärtner eigentlich meint, bewusst den Kehlkopf einsetzen?
Gunther Pohl: Wenn wir erlauben, dass der Kehlkopf mitmacht, macht er so viel mit , dass wir es dann doch bald nicht mehr im Griff haben. Die schlimmste Flötistenkrankheit, die ich empfinde, ist das Dauervibrato.
Theo Kinder: Sie halten Kurse ab. Kann man in dieser relativ kurzen Zeit wirklich etwas vermitteln?
Gunther Pohl: Ich mache etwa alle zwei Jahre einen circa 14-tätigen Kurs. So wie ich die Kurse anlege – ich nehme mir viel Zeit für ein Stück, und die Stück-Auswahl ist sehr begrenzt -, macht es mir auch viel Spaß zu vermitteln. Wenn ich zum Beispiel für einen Satz Prokofjew-Sonate drei Stunden verwenden kann, zwei Tage für das ganze Stück, kann wirklich jeder eine Menge Feinheiten mit nach Hause tragen. Ich halte es für sinnvoll, dass Studenten sich mehr orientieren, indem sie Kurse bei verschiedenen Flötisten besuchen.
Theo Kinder: Ein Sprung zur wissenschaftlichen Arbeit. Sie haben beide Mozart-Konzerte bei Bärenreiter herausgegeben...
Gunther Pohl:... nicht herausgegeben; ich hatte nur die Möglichkeit, zu der praktischen Ausgabe, die nach der neuen Mozart-Ausgabe-Partitur hergestellt worden ist, wie Bärenreiter es nannte, "Hinweise zur Interpretation" zu geben. Die Verantwortung lag nicht bei mir, was Klavierauszug oder Korrektur betrifft. Nach Erscheinen der Ausgabe haben sich viele Druckfehler herausgestellt, ich hatte einfach nicht die Möglichkeit, Korrektur zu lesen. Der Verlag hat nun in Aussicht gestellt, eine Neuausgabe herauszugeben, wo ich dann auch Korrektur lesen kann.
Theo Kinder: Bleibt angesichts der Fülle von Aufgaben und Tätigkeiten noch die Frage, haben Sie – außer Flöte – noch ein Hobby?
Gunther Pohl: Ich mache schon noch viel in meiner Freizeit, aber so direkt Hobby würde ich nicht sagen. Ich wandere sehr gerne, kann man das als Hobby bezeichnen?